Ein Zweites Zuhause im sozialen Brennpunkt
200 Kinder kommen pro Tag zum Kinder- und Jugendhaus Bolle in Berlin-Marzahn – dafür wurde jetzt der Bernhard-Vogel-Bildungspreis der Konrad-Adenauer-Stiftung verliehen.
Das Kinder- und Jugendzentrum Bolle steht mitten in einem der sozialen Brennpunkte Berlins, Marzahn. Nicht nur bekannt für seine betongrauen Hochhaussiedlungen, sondern auch für den ungewöhnlich hohen Anteil an Beziehern von Sozialleistungen. 70 Prozent aller Kinder sind hier von Hartz IV betroffen, jeder Vierte Jugendliche bricht die Schule selbst ab. „So entsteht hier eine große Perspektivlosigkeit bei den Kindern und Jugendlichen. Das wollen wir ändern, deswegen gibt es Bolle“, sagt Friederike Nitsch, Pädagogin des Jugendhauses. Bolle, so nennen es die Kinder hier.
Die Jüngsten gehen gerade in die erste Klasse, die Ältesten stehen kurz vor ihrem Schulabschluss. Das ist das wichtigste Ziel für die rund 20 Mitarbeiter von Bolle: Die Kinder, die aus sozial schwachen Familien stammen und oft unter Armut und Bildungsarmut leiden, zum Schulabschluss zu bringen, am besten noch in eine gute Lehre oder in ein Studium. Das gelingt nicht allein durch Wissenstransfer, sondern durch die Nähe zu Bezugspersonen, die hier mehr sind als Pädagogen. Die Mitarbeiter von Bolle sind Motivationstrainer, die Lust aufs Leben machen sollen. Und das scheint ihnen ganz gut zu gelingen.
Seit das Kinder- und Jugendhaus im April 2010 gegründet wurde, kommen immer mehr Kinder – bis zu 200 pro Tag. Mittlerweile sind es eben so viele, dass die Räume der Bolle nicht mehr ausreichen. Deswegen wird das Haus nun durch einen 660 Quadratmeter großen Anbau erweitert, der dieser Tage fast fertig ist.
Dort gibt es nicht nur einen eigenen Billard-Raum, sondern auch einen Familienberatungsraum, ein Jugendcafé, eine Wohnung zur Notübernachtung. „Kinder stark machen“ ist Projektname und gleichzeitig Credo für Bolle. Dafür wurde die Einrichtung nun mit dem Bernhard-Vogel-Bildungspreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Die Ersten trudeln langsam ein, wenn Bolle seine Türen um 12.30 Uhr öffnet, die Letzten gehen erst um 19.30 Uhr, wenn die letzten Mitarbeiter sie wieder schließen. Viele kommen jeden Tag ins Bolle. „Wir sind manchmal schon ein Familienersatz“, sagt Friederike Nitsch.
Genauso ist das Projekt vor sechs Jahren auch entstanden: Die Pädagogen des erfolgreichen Berliner Vereins Straßenkinder e.V. und allen voran der Gründer und Leiter der Einrichtung, Eckhard Baumann, haben sich gefragt, wie sie die Jugendlichen nicht nur von der Straße holen können, sondern wie verhindert werden kann, dass sie dort landen. Um durch Bildungsinitiativen präventiv einzugreifen, ist dann das Haus Bolle in Marzahn entstanden.
Zuerst gibt es hier jeden Tag, wie idealtypisch in der Familie, etwas Gesundes zu essen. Um zu lernen, was das genau ist und dass das lecker ist, helfen die Kinder mit in der Küche, nehmen an Kochkursen teil, bauen Gemüse in dem kleinen Garten hinter dem Haus an. Dort gibt es auch die Fahrrad- und Holzwerkstatt, wo in Workshops gelernt wird, mit den Händen zu arbeiten.
Das Haus ist in drei Altersbereiche gegliedert, die man schon optisch sofort voneinander unterscheiden kann. Die Grundschulkinder treffen sich ganz hinten. Dort gibt es kleine Tische zum Malen und Basteln, Bücherregale, Brettspiele.
Zum Hausauarbeiten machen gehen die Kleinsten nach draußen ins Bildungshäuschen im Garten. Dort schauen die Bolle-Mitarbeiter ihnen über die Schulter, helfen bei Problemen, geben Nachhilfe.
„Viele Kinder kommen schon in der ersten Klasse nicht hinterher, weil sich Zuhause keine Zeit für sie genommen wird.Deswegen sind wir da. Wir sprechen mit den Eltern, holen uns Feedback von den Lehrern, wir haben ein Auge auf die Zeugnisse und versuchen den Kindern Spaß an Bildung zu vermitteln“, sagt Nitsch.
Jeden Tag gäbe es kleine Erfolge, die ihnen zeigen, dass ihre Arbeit ankommt. Einen Tag vor Weihnachten habe sie zum Beispiel die Lehrerin eines kleinen Jungen angerufen, das passiert sonst nicht sehr häufig. Sie hat mitgeteilt, wie sehr sich der Junge in der Schule verbessert habe und wie engagiert er jetzt sei, alles wegen Bolle. „Das war natürlich toll. Früher war er oft aggressiv, hatte keinen Spaß an der Schule und konnte auch nicht mit anderen Kindern, dann haben wir ihn nach dem Lernen mit Fußballtraining geködert, das hat funktioniert“, sagt sie.
So wie bei ihm überlegen sich die Mitarbeiter für jedes ihrer Kinder eine kleine Strategie. Nur ein Mal habe das bisher nicht geklappt. Wegen fortdauernden Wutanfällen und Aggressivität haben die Mitarbeiter ein Hausverbot gegen einen Jugendlichen aussprechen müssen. „Die Kinder kommen gern, auch wenn oder vielleicht gerade weil sie genau wissen, dass wir konsequent sind“, sagt sie.
Damit die Kinder auch musikalisch und sportlich gefördert werden, gibt es einen Musikraum, in dem Gitarren und Schlagzeug, Keyboard und Mikrofon darauf warten, von der hauseigenen Kinderband gespielt zu werden, und den Tobe-Raum, den dicke Matten auspolstern und in dem mal Selbstverteidigung, mal Turnen, mal Tanzen geübt wird.
Jeden Dienstag dürfen sich die Kinder drei Teile aus der gut gefüllten Kleiderkammer picken. Die Mitarbeiter haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass die Kinder nicht gut ausgestattet sind. Die Kleidung stammt, so wie fast die ganze Finanzierung des Hauses, von Spenden.
Die 11 bis 13-Jährigen haben ihren Bereich gleich nebenan. Hier sieht es schon mehr nach Pubertät aus, es gibt Skateboards und Fantasy-Bücher, Flachbildschirm und Ghetto-Blaster. Sind die Jugendlichen schon aus der Vorpubertät raus, geht’s in den Teenie-Raum. Billiard, Kicker, Sofas zum Chillen sind hier der Hit.
Die Mitarbeiter der Bolle versuchen die Kinder nicht nur für ihre eigene Bildung zu interessieren, sondern auch für unsere Gesellschaft. „Die Kinder sollen lernen, wie unsere Demokratie funktioniert, wie Kompromisse eingegangen werden und wie es ist, auf etwas hinzuarbeiten“, sagt Nitsch.
Deswegen gibt es eine Jugendkonferenz, in der die Kinder von Bolle demokratisch entscheiden, wofür sie ihr Geld verwenden wollen. Jede Mahlzeit kostet hier nämlich 30 Cent, doch das Geld geht nicht an den Koch, sondern wird gesammelt, bis die Kinder entscheiden, was damit geschieht. Auf diese Weise haben sie sich für die finanzielle Unterstützung eines Patenkindes in El Salvador eingesetzt, Ausflüge geplant, Grillfeste geschmissen und auf einen eigenen Pool gespart.
Text verfasst von Elisa von Hof